Presseinformation "Rechtsgutachten zum sog. Neutralitätsgebot"
Dresden, 14.8.2024. Welche Verpflichtungen erwachsen Organisationen der Demokratie- und Jugendarbeit als Empfängern von Fördermitteln? Welche Kompetenzen hat der Sächsische Rechnungshof zur Beantwortung dieser Frage? Die Cellex Stiftung hat unterstützt von der Freudenberg Stiftung, der Schöpflin Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung ein Gutachten in Auftrag gegeben, das diesen Sachverhalt geprüft hat.
Ausgangslage und Hintergrund des Gutachtens
Zivilgesellschaftliche Organisationen werden von der öffentlichen Hand (Bund, Ländern, Gemeinden) auf vielfältige Weise unterstützt. Sei es durch die steuerliche Bevorzugung bei Gemeinnützigkeit, sei es durch die Ausreichung von Projektmitteln. Seit Jahren gibt es juristische Auseinandersetzungen darüber, welche Verpflichtungen die Organisationen – über die genauen Bedingungen der Fördermittelvergabe hinaus – haben. Sind sie dazu verpflichtet, ein sogenanntes Neutralitätsgebot einzuhalten? Ergibt sich daraus die Pflicht, alle gewählten Parteien gemäß ihrer Bedeutung annähernd gleich zu behandeln?
In Sachsen waren diese Fragen Gegenstand im 2. Untersuchungsausschuss ("Mutmaßlich rechtswidrige Förderpraxis bei Asyl- und Integrationsmaßnahmen…") des Sächsischen Landtags sowie im Sonderbericht des Landesrechnungshofes. Unter Verweis auf diesen 150-seitigen Bericht hat die Cellex Stiftung den renommierten Staats- und Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz a.D., um gutachterliche Stellungnahme gebeten.
Prof. Dr. Friedhelm Hufen stellte heute im Rahmen einer Pressekonferenz sein Gutachten den Medien vor. Das Dokument steht hier zum Download bereit.
Kernaussagen des Rechtsgutachtens
Zusammenfassend kommt Prof. Dr. Hufen zu folgenden Ergebnissen:
Der Landesrechnungshof hat übergriffig gehandelt. Er ist vom Gesetzgeber nicht dazu befugt, Ausführungen zum Neutralitätsgebot und zur Chancengleichheit politischer Parteien zu verfassen. Gemäß Art. 100 der Verfassung des Freistaates Sachsen und § 88 SächsHO obliegt dem SRH die Prüfung der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung des Freistaates. Gemäß § 91 SächsHO ist der SRH auch ermächtigt, bei Stellen außerhalb der Staatsverwaltung, z.B. Zuwendungsempfängern, zu prüfen. Die Prüfungen erstrecken sich grundsätzlich auf die bestimmungsgemäße und wirtschaftliche Verwaltung und Verwendung der Haushaltsmittel. Mit dem Sonderbericht hat der SRH seine Kompetenzen weit überschritten.
- Die politische Nähe eines schon im Titel auf Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgerichteten Ministeriums zu auf dieselben Ziele gerichteten gesellschaftlichen Vereinigungen ist kein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, sondern geradezu sachimmanent.
- Politische Bildung und Demokratiearbeit sind stets auf ethische Werte und Verfassungsziele gerichtet und deshalb nie „neutral“. Auch sind sie Ausdruck der streitbaren Demokratie und verpflichtende Staatsaufgabe, die auch und gerade durch private Organisationen wahrgenommen werden kann.
- Die Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses ist ein herausragendes Verfassungsprinzip. Sie darf nicht durch Neutralitätsgebot und Chancengleichheit der Parteien verkürzt werden. Beide Verfassungsgüter dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
- Die öffentliche Finanzierung privater Initiativen bedeutet nicht, dass deren Äußerungen zu solchen des Staates werden. Die privaten Träger sind weder Instrument noch „Sprachrohr“ des Ministeriums und auch nicht in gleichem Maße an ein – wie auch immer definiertes – Neutralitätsgebot und die Chancengleichheit der Parteien gebunden.
- Die Bildungsarbeit freier Träger darf Gefahren für die Menschenwürde, für die freiheitliche demokratische Grundordnung, für die Grundrechte und für Staatsziele wie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und europäische Einigung auch und gerade dann abwehren, wenn diese Gefahren von Programmen politischer Parteien ausgehen.
- Weder das Neutralitätsgebot noch die Chancengleichheit politischer Parteien verbieten die sachliche Auseinandersetzung mit diesen – auch wenn die entsprechende Partei oder führende Funktionäre konkret benannt werden.
Handlungsrahmen für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen
Aus Sicht der Auftraggeberin stellt das Gutachten zentrale Streitpunkte verfassungsrechtlich klar und weist in seiner Bedeutung über die kontroversen Standpunkte in Sachsen hinaus. Prof. Dr. Hufen zieht erstmals eine genaue Linie, wozu das sog. Neutralitätsgebot die Empfänger von Fördermitteln verpflichtet und wozu nicht.
Organisationen der Zivilgesellschaft dürfen sich auch dort gegen die AfD stellen und konkret von der Politik dieser Partei warnen, wenn sie staatliche Fördermittel erhalten haben. Als engagierte Vermittler in der Demokratiearbeit sehen sich viele Vereine geradezu in der Pflicht, vor den Gefahren für die Werte und Grundrechte unserer Verfassung zu warnen, wenn die AfD an Einfluss gewinnt. Das Gutachten stärkt bundesweit die Position gemeinnütziger Organisationen, in Freiheit ihrer Arbeit nachzugehen. Das Gutachten stellt auch klar, wo diese Freiheit endet.
Dem Sächsischen Rechnungshof obliegt gemäß der Verfassung des Freistaates die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und die Einhaltung der Bedingungen von Fördermitteln. Mit seinem Sondergutachten hat der SRH seine Kompetenzen deutlich überschritten und übergriffig gehandelt. Die (nicht einfache!) Interpretation des sog. "Neutralitätsgebotes" fällt definitiv nicht in den Aufgabenbereich des Rechnungshofes. Wir erwarten, dass der SRH sich zukünftig auf die ihm per Verfassung und Gesetz zugewiesenen Aufgaben beschränkt.
Ministerien als ausreichende Stelle von Fördermitteln und Vereine sowie andere zivilgesellschaftliche Organisationen als Empfänger dieser Mittel haben im verfassungsrechtlichen Kontext unterschiedliche Funktionen. Private Empfänger staatlicher Subventionen sind Grundrechtsträger, Ministerien sind Grundrechtsadressaten. Äußerungen von Vereinen und Stiftungen werden – auch in der geförderten Broschüre – nicht zu hoheitlichen Maßnahmen und Meinungsäußerungen, sondern bleiben Teil des pluralistischen Meinungsstreits in der Demokratie. Eine Kontrolle der Förderung kann daher nur Rechts- und nicht Inhaltskontrolle sein.
Als private Vereinigungen können die Veranstalter von Diskussions- und Informationsabenden und ähnlichen Anlässen im Allgemeinen nicht gezwungen werden, politische Parteien und deren Unterorganisationen sowie Sympathisanten einzubeziehen, die nicht vom Zweck der Veranstaltung erfasst werden. Maßgeblich sind also Zweck der Veranstaltung und Widmung der jeweiligen Einrichtung. Fördergeldempfänger dürfen nicht zur Einbeziehung von Parteien und Gruppen in Veranstaltungen und Veröffentlichungen gezwungen werden, die den Zielen von Satzung oder der Veranstaltung widersprechen. Nur dann, wenn es etwa abstrakt um die Vorstellung und Programme „der Parteien“ geht, dann dürfen nicht verbotene Parteien nicht ausgeschlossen werden.
Durch das Gutachten von Herrn Prof. Hufen sehen wir unsere Positionen auf ganzer Linie gestärkt. Die Ausführungen werden über Sachsen hinaus Wirkung entfalten und der Rechtsposition von Vereinen und Stiftungen in Deutschland Rückhalt geben – auch in kommenden juristischen Auseinandersetzungen. Der Bundesregierung, die eine Überarbeitung der gesetzlichen Vorgaben in Fragen der Gemeinnützigkeit und des Neutralitätsgebotes anstrebt, empfehlen wir eine Beschäftigung mit den nun vorliegenden Ausführungen.
Pressekontakt: Dr. Eva Sturm, e.sturm@cellex-stiftung.org, 0351 4466 450 91